Samstag, 21. September 2013

Grève Blanche

Grève Blanche nennt sich dieser Teil von Trégastel Plage, in dem ich wohne. Grève Blanche ist der kleine Strand, der sich genau nach Westen, ins offene Meer, wendet.
Vor der Grève Blanche liegen drei Inselchen. Die Île Tanguy als südlichste, ich habe von ihr berichtet. Im Norden, durch einen natürlichen Damm aus Sand mit dem Festland verbunden, ist Île Lapin, die Kanincheninsel. Und westlich davon liegt die Île de Seigle. Eigentlich sind es drei Inseln, doch die Schluchten dazwischen sind nicht immer überflutet. Oder besser, die drei Teile werden nur bei Grande Marée völlig voneinander getrennt.
Bei Ebbe ist die Insel zu Fuß zu erreichen. Man tut aber gut daran, die Zeiten im Augen zu behalten. Denn wenn das Wasser zurückkommt, fließt es zwischen dem Festland und der Insel wieder zusammen, lange bevor der Sand dazwischen überflutet wird. Und dann bekommt man mindestens nasse Füße.
Gréve Blanche, rechts Île Lapin, links Île de Seigle
Sportlichen Menschen gelingt es, von der dem Festland zugewandte Seite über die Felsen auf die Insel zu gelangen. Auch können diese akrobatischen Menschen die einen der beiden anderen Inselteile beklettern. Ich gehe lieber den sicheren Weg zwischen den Inseln auf den vorderen Teil. Auch da ist noch genügend Kletterkunst gefordert. Unsicher auf den Beinen sollte man nicht sein.
Auf dem Sand und am Rand der Insel ist wieder Pêche à pied angesagt. Überall stehen dunkle Silhouetten herum, kauern sich in den Sand, buddeln und sammeln. Ich gehe zwischen ihnen hindurch, verhindere, dass der Hund sich zu sehr für die Beuten interessiert. Als er mal in einen Eimer hineinschnuppert, schaue auch ich hinein und wende mich schnell ab. Darin findet ein Gewusel von roten Würmern statt. Angelköder. Bin ich froh, dass ich nicht angeln muss.
Dann bin ich, nach einem großen Schritt über den Tanggürtel, den das Wasser hinterlassen hatte, an den ersten Felsen der Insel angekommen. Die Senke zwischen den Inselteilen ist voller einzelner Felsen, auch Kieselsteine liegen herum, dazwischen Alten, Tang und Pfützen mit sandigem Grund. In den Pfützen schimmern farbige Schnecken, Kieselsteine und Pflanzen. Der Meeresboden unter Wasser ist bunt und glänzend, wunderschön.
Dann beginnt der Untergrund ganz felsig zu werden. Hier beginnt der Aufstieg auf den vorderen Teil, der Aufstieg, der keine akrobatischen Kunststücke verlangt.
Geheimnisvoll
Oben stehe ich auf Heide. Teilweise blüht es noch, teilweise ist es vertrocknet. Dazwischen Pfade, gerade breit genug für einen Fuß. Die Insel wird im Sommer sicher öfter besucht, was dem Untergrund und dem Bewuchs nicht gut tut, aber offensichtlich hält es sich in Grenzen, die Wege sind wirklich schmal, die Heide wächst dick und kräftig. Vorsichtig gehe ich nach links, nach Norden, bis ich am Felsenrand bin.
Ich bin absolut allein auf dem Inselchen. Und auf dieser, dem Meer zugewandten Seite, sehe ich auch die Menschen unten auf dem trockenen Meeresboden nicht. Mein Hund und ich existieren, sonst nichts und niemand. Außer den Vögel, die über dem Wasser ihre Gleitflüge machen oder unten zwischen den Felsen nach Futter suchen. Sie und wir beleben die Welt.
Ich suche mir einen bequemen Felsen, etwas windgeschützt, und setze mich hin. Ich blicke in die Ferne. Gegenüber sind die 7 Inseln, die so viel mehr als 7 Inseln sind - les Sept Îles. Auf der größten ist das normannische Fort auf der einen und der Leuchtturm auf der anderen Seite zu erkennen, Île aux Moines wird sie genannt, die Insel der Mönche. Sie ist die einzige, auf der Touristen von den Booten losgelassen werden können. Von meinem letzten Ausflug dort hin, der schon fast 10 Jahre her ist, weiß ich, dass auch dort Fußwege angelegt sind. Der Bewuchs ist durch niedere Drahtabschrankungen geschützt. Es ist nicht mehr möglich, kreuz und quer von der Anlegestelle der Ausflugsschiffe unterhalb des Leuchtturms zum fort auf der anderen Seite zu gehen. Gut für die Natur, schlecht für die Besucher - und deshalb war ich seither nicht mehr dort.
Die anderen Insel dürfen überhaupt nicht betreten werden, es ist im Interesse der Vogelwelt verboten. Wenn man bei einem Ausflug mit dem Schiff Glück hat, bedankt sich irgendwo ein fauler Seehund dafür, indem er mit der Flosse freundlich herüber winkt, ansonsten aber nicht weiter in seinem Schläfchen gestört werden will.
Auf der runden Insel ganz im Osten blinkt es weiß herüber - Guano von der Basstölpelkolonie. Dort gibt es auch eine Videokamera der ornitologischen Station auf der Île Grande.
Île Rouzic - Webcam

Ich sitze und sauge in mir auf. Das Gefühl, alleine auf so einer Insel zu sitzen - auch wenn diese im Moment eigentlich gar keine Insel ist - ist unbeschreiblich. Es ist, als schwebe man im Universum. Der Rest der Menschheit findet nicht statt. Nichts findet statt. Nur das Meer, die Wellen, der Wind und dieser unendliche Blick in die Ferne. Bin ich in eine andere Dimension eingetreten?
Die Stille ist hörbar. Es gibt keine Geräusche, mit denen man sonst unablässig konfrontiert ist. Keine Stimmen, keine Motoren, kein Klappern, kein Rascheln. Es ist die absolute Stille, die es nur zu diesem Zeitpunkt geben kann. Denn im Moment ist auch das Meer stehengeblieben.

Turn of the Tide - im Hintergrund die Île des Moines
Der Tiefpunkt des absoluten Niedrigwasser ist erreicht. Etwa eine halbe Stunde bleibt das Meer auf diesem Stand. Jeden Tag zwei Mal bei Ebbe, zwei Mal beim höchste Stand. Dann scheint auch die Zeit stehen zu bleiben. Wie eine Decke liegt die Ruhe in der Luft. Nicht einmal ein Windhauch ist zu spüren.

Und dann geht ein Ruck durch die Luft, ein winziges Knarren. Die Wasseroberlfläche beginnt zu säusseln, zuerst nur leicht, dann sichtbarer. Es kommt Bewegung in die glatte Oberfläche. Schließlich sehe ich sie. Es ist nur eine kleine Woge, aber es ist eine, die sich langsam auf den Rand des Wassers Richtung Land vorwärts bewegt. Und als es sie erreicht, schießt ein kleines Zünglein auf den angetrockneten Strand vor. Langsam, ganz langsam, schiebt sich das Meer zurück in die Bucht.

Ich gehe auf die andere Seite der Insel, wo ich auf die Grève Blanche hinüberschauen kann. Unten kreischen Hunde. Zwei Pferde galoppieren über den Meeresboden. Ich sehe den nassen Sand schimmern. Seine helle Struktur ist ein Bild, wie es nur der Zufall der Natur schaffen kann.
Die Hunde, groß, der eine rot, der andere schwarz, ich schätze Briards - und ich kenne sie aus vorigen Jahren, glaube ich - sind angeleint, der eine bei Herrchen, der andere bei Frauchen. Und sie regen sich maßlos auf, weil die Pferde an ihnen vorbeisausen. Ich überlege mir, was das für ein Hundeleben sein muss, wenn man sogar auf dem Meeresboden, in der Freiheit der Bucht, angeleint bleiben muss.
Mein Hund, das alte Tier, jedoch interessiert sich zu sehr für die Geräusche, die von da unten an seine Schlappohren dringen. Er ist inzwischen sehr schwerhörig, aber nun ja, irgendwie scheint das Gebelle durchzudringen. Und langsam, vorsichtig eine Pfote vor die andere zu setzen, beginnt er den Abstieg über die steilen Felsen. Ich weiß, dass meine Stimme nicht durch seine Schwerhörigkeit dringt. Es ist wie bei menschlichen Schwerhörigen - sie hören nur, was sie hören wollen.
Was ist da unten los?
Früher rannte und sprang Buddy wie eine Gemse über die Felsen auf den Meeresboden hinunter, um Drachen zu jagen. Die Drachen, die an Seilen in der Luft fliegen. Doch offensichtlich ist ihm das nun nicht mehr möglich. Dennoch, sein Abstieg ist stetig, nichts hält ihn auf. Ich kann nur zuschauen. Denn ich war noch nie eine Gemse - und hier, an dieser Stelle, schaffe ich es auch nicht langsam hinunterzuklettern.
Das Paar mit den Briards sieht aus als hätte es auch die Absicht, die Insel zu beklettern - von vorne. Doch sie sehen wohl mein kleines Ungetüm. Das scheint sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Ich sehe, wie sie diskutieren. Dann verschwinden sie aus meinem Blickfeld.
Mein Hund ist auch aus meinem Blickfeld verschwunden, er ist unterhalb der Felsen. Die Hunde sind am vorderen Ende der Insel, er ist an der Seite. Ich weiß, dass ich nichts tun kann, nur warten. Er wird zurückkommen, sobald er die Hunde nicht mehr sieht oder hört. Und er kann sie nun nicht mehr sehen. Dennoch brülle ich. Sinnlos, es schadet nur meiner Stimme. Aber vielleicht dient es meinem Ansehen bei den Hundehaltern, ich versuche wenigstens, Autorität auszustrahlen. Eine Autorität, die bei meinem Hund schon immer sinnlos war. Und jetzt, im Alter, nutzlos.
Ich warte, zugegeben etwas nervös.
Und dann sehe ich ihn unten wieder auftauchen. Er schaut zu mir hoch. Dann beginnt er genau so langsam und sorgfältig den Aufstieg. Noch vor einem Jahr hätte er keine Minute gebraucht, wieder bei mir zu sein. Doch jetzt dauert es. Ich verstecke mich hinter einem Felsen und sehe, wie er wieder hochschaut, irritiert, weil er mich nicht mehr sieht. Ich trete lieber wieder hervor, er schaut mich glücklich an und klettert weiter.
Dann ist er oben bei mir. Ich schimpfe ihn liebevoll aus. Aggressiv zu schimpfen nützt nichts, denn er hat ja alles richtig gemacht, er ist wiedergekommen, hat mich gefunden. Ich muss ihn loben - aber da ich sauer bin, muss ich ihn schimpfen. Mein Kompromiss: Ich benutze schimpfende Wörter, bin aber lieb und lobend zu ihm, denn meine Worte versteht er ohnehin nicht. Und ich knuddle ihn. Von nun an weicht er nicht mehr von der Seite.
Plötzlich höre ich Schritte und schon schreitet ein junger Mann mit Rucksack an mir vorbei, als befände er sich auf einem befestigten Weg. Er war vorne hochgeklettert und nun auf dem Weg nach hinten, zu meinem Zugang. Wenn er so stetig schreitend auch den vorderen Felsen heraufgeklettert ist, dann meine Hochachtung.

Dann höre ich Stimmen. Eine Gruppe Männer war den Zugang für Vorsichtige hochgekommen. Schnatternd untersuchen sie die Insel, zwei klettern auf den Felsen in der Mitte. Es wird Zeit für mich zu gehen. Denn ich werde nie verstehen, wie man den Zauber dieser Insel stören kann, indem man sinnlos miteinander spricht. 
Zwei am Ziel

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