Montag, 16. September 2013

Eingewöhnung

Akklimatisieren nennt man das, was Körper und Geist so durchmacht, wenn er plötzlich in ein anderes Klima und das auch noch auf Meereshöhe versetzt wird. Das Resultat: Müdigkeit, Erschöpfung und - ja, auch noch - unbändiger Appetit. Und das in einem Land, in dem es viel leckeres gibt.
Am Montag bin ich ziemlich gerädert. Aber - am Montag ist im Ort Markt.

Wochenmarkt 

Jeder, der Frankreich kennt, kennt sie, diese Wochenmärkte, die in jedem Ort an einem bestimmten Tag stattfinden, meist von morgens bis mittags.Dort findet man neben den "normalen" Angeboten wie Obst und Gemüse vom Großmarkt, Kleidungsstücken, Geschirr und anderen wichtigen Dingen des täglichen Lebens auch die jeweiligen regionalen Anbieter mit ihren teils extrem leckeren Produkten. Hier in der Bretagne sind das Meeresfrüchte und Fisch, doch auch das gibt es in ganz Frankreich und ist meist vom Großmarkt in Paris. Damit kann man es gleich beim günstigeren Fischhändler vor Ort kaufen.
Aber es gibt kleine Stände mit Käsespezialitäten, Ziegen-, Schafs- und Kuhkäse, Frischkäse gewürzt oder auch nicht, harte, alte Käsesorten, selbst vom Ziegen-, Schafs- oder Kuhbauer hergestellt.
Man trifft Anbieter mit Fischpasteten, Enten- und Gänsepasteten - nun ja, die EU hat's verboten, Frankreich hat es zum Kulturerbe erklärt, entscheiden muss jeder selbst. Marmeladen oder Liköre aus Beeren werden angeboten. Honig von bretonischen Bienen. Schmeckt der anders als der von zu Hause? Und natürlich Cidre und Chouchen, Honigwein. Schmeckt wie Met, wer hat's erfunden? Die Kelten natürlich - die Druiden tranken ihn und verbrachten Wunder. Yec'hed mad!
Ab und an gibt es auch Kunsthandwerk. Im Sommer sicher mehr als jetzt. Ab sofort wird der Markt wöchentlich kleiner werden. Die besonderen Stände mit den Leckereien und den für die Touristen interessanten Artikel werden wegbleiben. Denn die Leute, die hier leben, brauchen das nicht, können es sich vermutlich auch nur selten leisten.
La Couronne du Roi Gradlon
Hier in Trégastel Plage findet der Markt am Montagmorgen statt. Mein Ritual an diesem ersten Montag nach meiner Ankunft ist: Eine Wanderung über die Krone von König Gradlon in den Ort, zur Touristeninformation, um einen Plan Marée, eine Gezeitentabelle, zu erstehen, dann einen Gang über den Markt, um einige Leckereien zu kaufen. Danach eine Runde um die Presque'île Renote und zum Forum von Trégastel, um dort Muscheln zu essen. Dann über den Küstenweg zurück nach Hause.Ich trinke noch schnell einen Kaffee und packe meine Sachen. Der Rucksack muss mit, damit die gekauften Leckereien unkompliziert transportiert werden können.
Ich trete aus dem Haus und sehe die dunkle Wolke über der Bucht. Ich will sie aber nicht sehen und gehe los. Als ich nur wenige Meter weit gegangen bin, fängt es an zu regnen. Meine Vernunft teilt mir mit, es macht keinen Sinn, schon nass auf Gradlons Krone zu klettern. Also - zurück nach Hause.
Ich beschließe, mit dem Auto zu fahren und dann zu schauen, was machbar ist.
Als ich in den Ort hineinfahre, bin ich fasziniert.Markt auf der Straße

Der Markt findet immer zu größten Teilen auf dem großen Platz am Kreisverkehr statt. Doch das Gelände reicht für die vielen Stände nicht aus. Also zieht er sich entlang der großen Straße, auf der alle, die nach Trégastel Plage kommen, fahren müssen, auch der öffentliche Bus. In allen vorigen Jahren fuhren die Autos mitten zwischen den Ständen, die rechts und links an der Straße standen, hindurch, auch eben der Bus. Und ich, wenn ich mal so dumm war, das zu tun.
Als deutsche sicherheitsbewusste Marktveranstalterin bin ich noch jedes Jahr fasziniert gewesen, dass dies möglich ist. Autos zwischen Menschen zu Fuß. In Deutschland absolut unmöglich.
Doch jetzt ist die Straße gesperrt. Eine Schranke verhindert das Einfahren. Man muss nach links abbiegen, in eine Einbahnstraße Richtung Forum. Ich bin höchst amüsiert, weil erstens endlich gesperrt ist - wobei man allerdings schließen muss, dass etwas passiert ist, was natürlich nicht so schön ist. Ich denken nicht, dass auch hier die EU eine Regel geschaffen hat. Das muss ich noch erfragen. Und zweitens weiß ich, dass Ortsunkundige hoffnungslos in der Sackgasse feststecken, vor allem von der entgegengesetzten Richtung her. Und was ist mit dem Bus, der mindestens ein Mal während der Marktzeit fährt?Ich biege also ab und beschließe, zum Forum zu fahren und dort zu parken, nicht die Querstraße, die die Umleitung darstellt, zu nutzen. Ich bin ja nicht ortsunkundig.
Ich parke also auf dem großen Parkplatz am Forum und gehe mit dem Hund an der Leine zur Bucht, da ich weiß, er muss erst einmal einige Geschäfte verrichte, was im Ort keine gute Idee ist.
Während dessen sehe ich die ersten Autos mit belgischer und britischen Kennzeichen, die hier in der Sackgasse landen. Sie sind aus der anderen Richtung an der Schranke gescheitert, rechts abbiegend der Umleitung gefolgt und nicht wieder links abgebogen, um den Bogen zu beenden, sondern geradeaus gefahren. Hier geht es zur Île Renote, die eine Halbinsel ist, wo also keine Durchfahrt möglich ist. Außerdem endet hier die Einbahnstraße, die ich gekommen bin - man kann nicht weiter fahren als auf den Parkplatz, auf dem mein Auto steht. Gerade aus ist das rote Schild mit dem weißen Balken.
Ich kann mir richtig gut vorstellen, wie die Leute sich gefangen in dieser Sackgasse fühlen. Und ich finde es extrem lustig.Schadenfreude ist manchmal wirklich genüsslich.
Ich aber gehe unten auf dem Meeresboden entlang in den Ort zurück, gehe  für meinen Tidenplan zur Touristeninformation und dann, wieder im Regen, kurz über den Markt, um festzustellen, dass die kleinen Stände mit den leckeren Sachen gar nicht da sind. Nur ein Käsestand finde ich, doch im Regen macht es keinen Spaß, sich mit Ziegenkäse zu beschäftigen.
Ich esse unter dem Vordach eines Crêpesstand einen Crêpe mit Caramel de Beurre salée, Karamell mit gesalzener Butter. Mein Frühstück. Als ich fertig bin, hat der Regen aufgehört.
Ich wandere die Straße entlang zurück zum Auto und fahre zum Parkplatz der Île Renote, auch wenn das nicht mal ein Kilometer ist. Doch die Strecke dazwischen kann man guten Gewissens meiden.

Presqu'ile Renote - die Halbinsel

Presqu'île Renote
Die Île Renote ist ein Felsenzipfel Richtung Osten, der etwa einen Kilometer ins Meer hinausragt. Rechts bildet sich dadurch die Bucht und der Hafen von Trégastel. Gegenüber liegt mal wieder die Île Costaere mit ihrem Schloss.
Hinter der Île Costaere sieht man den Phare de Mean Ruz, den Leuchtturm von Ploumanac'h und die imposanten roten Granitsteine am Sentier douanieres.
Postkartenmotive live gibt es hier hier allüberall.
Ich gehe an der Nordküste der Halbinsel entlang, weil da der Wind von hinten bläst. Auf der anderen Seite ist es geschützter, deshalb ist der Uhrzeigersinn bei Wind besser, bei Windstille ist es besser gegen den Uhrzeigersinn.
An der Spitze setze ich mich einige Zeit auf meinen Lieblingsstein und sinniere in die Bucht hinaus. Wieder geht mir der Text durch den Kopft: Sitting on a rock of the bay. Otis Redding war zwar an einem Dock gesessen, aber den gibt es hier nicht. Felsen dagegen mehr als genug. Watching the tide roll away... Yes.
Früher konnte ich von hier aus ab und zu Herrn Hallervordens Unterwäsche und die Betttücher bewundern, wenn sie im Wind trockneten, aber das Schloss ist seit mindestens drei Jahren wohl meist unbewohnt, nun da er sich lieber um ein Theater in Berlin kümmert.
Früher traf ich ihn auch so ab und an, an der Apotheke, im Supermarkt, auch mal in einem Laden mit bretonischem Schnickschnack - und war natürlich dann keine Deutsche, erkannte ihn also nicht, denn als Fan wollte ich nun wirklich nicht missinterpretiert werden. Doch nun hat er Trégastel wohl verlassen. Schade eigentlich. Für ihn.
Schließlich, nach ein paar Hundebegegnungen, beginne ich den Rückweg auf der Seite der Halbinsel, die dem Festland zugewandt ist. Nicht ganz offiziell ist hier der Pfad durch einen Felsenhaufen, der an einer Stelle sehr eng ist und wo man sich hindurchwinden muss. Netter Weise passe ich auch dieses Jahr durch, doch ich vermute, im Zeitalter der schwergewichtigen Menschen müssen viele hier umkehren und den offiziellen Weg nehmen. Imposant ist dieses Felsenchaos allemal, auch wenn man sich nicht hindurchschlängeln mag.
An einer Stelle hat das Meer seit letztem Jahr mal wieder zugeschlagen und den Weg hinunterbrechen lassen. Der neue Weg führt in einem Bogen an der Stelle vorbei. Doch dadurch ist die Wiese, auf der sich immer zur Freude meines Hundes unzählige dieser winzigen Kaninchen tummelten, ungeschützt. Sicher zeigen sich die kleinen Tierchen nicht mehr so einfach an der Oberfläche.
Mein Hund hat niemals eines gefangen, dazu ist er gar nicht in der Lage. Er lässt die Tierchen zwischen seinen Beinen hindurch hüpfen und schaut nur fasziniert zu. So ist er eben, mein gefährlicher Hund.
Als ich am Auto bin, fängt es wieder an zu regnen. Nett von dem Wetter, dass es mich im Trockenen um die Île Renote gehen ließ.
Ich fahre zum Forum zurück und hüpfe durch Regen und Sturm zum Restaurant, dessen Muscheln ich durchaus zu schätzen weiß. Als Spezialität wird dort neben verschiedenen Miesmuschelgerichten auch Crêpes und Pizza angeboten. Ich erhalten einen hundesicheren Tisch.
In Frankreich kann man fast überall in Restaurants oder Hotels den Hund mitnehmen. Französische Hunde sind auch sehr anständig, fallen selten auf. Und sie benehmen sich auch untereinander sehr zivilisiert.
Mein Hund, der nun zum 14. Mal mit mir den Herbst in der Bretagne verbringt und auch sonst immer mit mir unterwegs ist, hat diese französische Hundekultur unkompliziert angenommen. Im Restaurant legt er sich unter den Tisch und ward nicht mehr gesehen.
 
Am Nebentisch sitzt ein Paar. Ich höre schnell: Engländer. Und ich höre, wie sie eine Pizza zusammen bestellen. Dann traue ich meinen Ohren nicht. "Avec de frites?" kam von der jungen Kellnerin. Frites - Pommes frites - zur Pizza?
Vor vierzig Jahren besuchte ich in London ein italienisches Lokal. Damals war auch in Deutschland Pizza noch etwas Besonderes. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wann ich zum ersten Mal eine gegessen habe, doch sehr viel früher war das sicher nicht. Ich war fasziniert, als mit der Pizza, die ich bestelle, Pommes frites geliefert wurden. Kohlenhydrate sind ja was nettes, bauen die Muskeln auf, aber man kann es schon übertreiben.
Mit meinem englischen Freund habe ich erst neulich darüber gesprochen. Wir haben ein bisschen gemeinsam über die Briten und ihre Kartoffeln gespottet. Doch irgendwie hatte ich den Eindruck, die Briten hätten seit damals, als Pizza und Pasta auf den Inseln tatsächlich neu und ungewohnt war - und man einfach auf die gewohnten Kartoffeln nicht verzichten wollte - doch dazugelernt.
Das Ehepaar am Nachbartisch beweist, sie hatten nicht. Und die Frage der französischen Kellnerin beweist: Die Briten bestellen oft Pommes frites mit der Pizza. Denn wenn eine Französin, respektive Bretonin, automatisch fragt, ist es so normal als wenn Deutsche fast immer gefragt werden, ob man einen verlängerten café haben will - natürlich mit Milch. Beim Kaffee brauchte ich einige Zeit, bis ich begriff, dass sie den typisch deutschen Kaffee meinen - eine Tasse Kaffee mit Milch. Denn ich verstehe nicht, warum man im Urlaub in einer anderen Kultur die eigene unverändert geboten haben will statt sich mit dem ungewohnten auseinanderzusetzen, es kennenzulernen. Dann kann ich ja gleich zu Hause bleiben.
Ich muss mich zurückhalten, nicht zu lachen, als Pizza samt Fritten tatsächlich geliefert wird. Immerhin trinkt die Frau ein Glas Rotwein dazu. Der Mann trinkt Wasser.
Meine Muscheln jedenfalls bestelle ich "sans frites", auch wenn "moules frites" ein sehr typisches, relativ günstiges Essen in der Region ist. Doch ich bin kein Fan von Pommes frites, warum also soll ich sie mir antun? Spezialität hin oder her.
Als Vorspeise bestelle ich mir noch einen salade gésiers, ein Gericht, das nicht in diese Region, sondern in den Süden gehört, wo der Salat mit Entenmägen serviert wird, was natürlich noch besser schmeckt. Doch Hühnermägen sind auch lecker, besonders als confit. Heiß auf grünem Salat mit einem Dressing aus Essig und Öl - eigentlich kann man davon leben. Confit ist in eigenem Fett gegartes, eingemachtes Fleisch, ebenfalls eher eine Spezialität aus dem Süden. Eine Schale mit Cidre bestelle ich auch - une bolée du cidre. Café rundet auch bei mir dann das Ganze ab, doch ich nehmen natürlich einen petit noir, den kleinen schwarzen Kaffee, stark und bitter. Und gut für die Verdauung.
Das Ehepaar nebenan bricht auf - und die Frau und ich kommen ins Gespräch, natürlich über den Hund. Sie will Name und Alter wissen. Mal endlich jemand, für den "Buddy" nicht ungewöhnlich ist. Wir sprechen über alte Hunde und wie schlimm es ist, wenn sie gehen. Der Hund des Paares ist vor kurzem gestorben. Sie wollen keinen neuen, denn in England kann man ihn nirgends mitnehmen. Deshalb sind sie auch so erstaunt gewesen, als ich mit Buddy hereingekommen bin. Sie wussten nicht, dass man einen Hund in ein Restaurant nehmen kann. In England undenkbar.
Nun ja, dann werde ich wohl auch nach Buddy nicht nach England reisen, denn ich weiß, dass ich wieder einen Hund haben werde. Und mein Hund ist immer dabei. 

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