Dienstag, 5. November 2013

Die Geschichte eines Strandes - Teil 1


Grève rose 2013 vor dem letzten Sturm


Grève rose vor März 2008

2008

An dem kleinen Strand zwischen der Grève Blanche und dem Plage de Toull Bihan in Trégastel knallen die Weststürme ungebremst auf das Festland, wenn sie bei ihrem Weg über den Atlantik in Europa angekommen sind.  Nichts verlangsamt ihre Kraft, auch die kleinen Felseninseln Île de Seigle und Île Tanguy rechts und links nur ein paar Meter vor der Küste bilden eher einen Trichter, als dass sie das Land schützen.
Der Wind hat über die Jahrmillionen einen Wall aus Sand auf dem Granit, der den Sockel der Bretagne bildet, aufgetürmt. Wie die Natur diesen Sandwall erschaffen hatte, hätte sie ihn irgendwann auch wieder zerstört, wenn nicht wie so oft der Mensch den Platz verändert hätte.
Traumhafte Lage direkt am Strand - vor März 2008
Eine kleine Mauer am Rand des Sandstrandes sorgte seit Jahrzehnten dafür, dass die Wellen sich an ihr brechen und nicht weiter ins Landesinnere vordringen konnten. Nur wenige Meter weg vom Absturz des Festlandes auf den Strand, oben auf dem festen Grund des Granits, waren – wie könnte es anders sein – sieben Häuser hingestellt worden, mit Blick auf das Meer. Die Sicht dort ist phänomenal. Jeder Feriengast, der diesen Teil der zerklüfteten Bucht besucht, wünscht sich, in einem dieser Häuser wohnen zu können, als Ferienhäuser sind sie während der Saison ausgebucht, die Besitzer können jeden Preis verlangen.
Doch ganzjährig will heute, 40 Jahre nach dem Bau, niemand mehr dort wohnen, an Touristen werden die Häuser hauptsächlich im Sommer vermietet. Wer als Tourist einen Herbststurm miterlebt, schätzt dies als Abenteuer. Im Winter lassen die Stürme die Wände erbeben, und das Pfeifen in den Fenstern macht den Genuss jeglichen Fernsehfilmes unmöglich. Weihnachten dort oben ist sicher romantisch, wenn man weiß, man reist wieder ab. Die Eigentümer, die noch das ganze Jahr im größten und schönsten der Häuser gewohnt hatten, verließen ihr Haus vor etwa 8 Jahren, um weiter im Landesinnern geschützt vor dem Wind und dem Lärm des Meeres zu leben. Und näher an den Cafés, wie eine der letzten Bewohnerinnen des Viertels aus einem Haus unterhalb des Felsens erklärte.

Sturmtief Johanna

Am 10. März 2008 gab es einen heftigen Sturm. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches für diese Jahreszeit, auch nicht in Verbindung mit der höchsten Springflut des Jahres. Jedes Jahr im Frühling und Herbst finden diese hohen Springfluten statt. Und oft gibt es gleichzeitig einen heftigen Sturm, der in anderen Teilen des Landes, im Binnenland, eine Katastrophe wäre. Aber am Atlantik und am Kanal ist das normal, die Häuser und Dächer sind entsprechend gesichert, Bäume wachsen nur an Stellen, die vom Wind geschützt sind.
Diese Sturmflut im März jedoch war selbst für die sturmerprobte Küste ungewöhnlich heftig. Der Sturm war eindeutig ein Jahrhundertsturm, die dazugehörige Flut entsprechend gewaltig. Die Wellen und der Wind zerstörten viele Küstenwanderwege, unterspülten Felsen und veränderten an einem Tag die Küstenlinie. Auch das Forum von Trégastel wurde schwer beschädigt. Dort wurde das Restaurant in Einzelteile zerlegt, und Meerwasser drang in das Schwimmbad ein. Noch im Herbst 2008 waren beide geschlossen. Im Jahr 2009 schließlich hatten wohl die Versicherungen bezahlt, und Schwimmbad und Restaurant konnten nach sorgfältiger Renovierung wieder geöffnet werden.

September 2008 - sechs Monate nach dem Sturm
Das Unwetter vom März zerstörte die kleine Mauer am diesem Strand im Westen.
Während des Sommers hatte man nichts unternommen, um den Strandbetrieb nicht mit Baumaßnahmen zu beeinträchtigen. Im Herbst des Jahres 2008, vor der ersten Herbstspringflut und dem damit eventuell damit verbundenen Sturm füllte man Sandsäcke entlang der Linie auf, die einst die Mauer gebildet hatte. Sie hielten genau bis zu dieser ersten Springflut, die tatsächlich in Verbindung mit einem Sturm auf das Land donnerte. Danach war der Strand mit weißen zerrissenen Plastiksäcken geschmückt, der Sand war wieder da verteilt, von wo er weggeschaufelt worden war.

2009


In diesem Jahr schließlich durften Naturschützer das Unglück des kleinen Strandes nutzen, um die Böschung ökologisch zu schützen, nach dem Prinzip, wie es sich auch an anderen Stellen der Küste bewährt hatte, in Dünen der Sandstrände oder auf den Felsenoberflächen des Pointe de Raz oder auch des Sentier Douarniers in Ploumanac’h, auf der Île aux Moines draußen, wo die Ausflugsboote jährlich Hundertausende von unbekümmerten Urlaubern für jeweils eine dreiviertel Stunde auf die Insel entlassen. Dort können sie nun nicht mehr frei über deren Oberfläche trampeln, sondern werden durch auf Knöchelhöhe angebrachte Drähte auf schmale Wege gezwungen, um den Pflanzen eine Chance zu geben, den Boden zu befestigen. Die Erd- und Sandflächen auf den Felsen waren mit Rupfen und Bambus bezogen worden, damit sich dort Pflanzen ansiedeln konnten, bevor das Erdreich abgetragen war. Die Gefahr, dass der Boden ins Meer geweht wurde, wurde so verringert.
Diese Maßnahmen sind mühsam, denn nicht alle unbekümmerten Urlauber sehen ein, dass sie die niederen Zäunchen am Rand, die eher zu überreden als zu behindern scheinen, nicht übersteigen sollen. Erst wenn die Pflanzen wirklich Fuß gefasst haben und eine gewisse Höhe erreichen, bleiben die Menschen auf den Wegen, den die Pflanzen rächen sich bitterlich an den kurzbehosten Eindringlingen, indem sie ihnen die Beine zerkratzen. Doch auch dann gibt es noch Unerschrockene, die absolut nicht einsahen, dass sie nicht zu diesem Felsen dort oder jenem Hügel für ein absolut neues Fotomotiv, das es schon in tausendfacher Ausgabe gibt, gelangen sollten.
Bei diesen überlaufenen Ausflugszielen geht es jedoch um mehr oder weniger waagrechte Oberflächen und Gelände, die der Erosion preis gegeben waren, weil Millionen Touristenfüße den Pflanzen keine Chance gaben, den Boden durch ihr Wurzelgeflecht zu schützen.
Doch hier in Trégastel handelt es sich um eine fast senkrechte sandige Böschung, auf der Farn und Gras wuchsen, wie überall an der Küste, wenn die Erosion die Erdkrume nicht ganz weggetragen hatte. Ein schmaler Weg führte ein Stück oben vor den Gartenmauern der Häuser entlang, doch der Rest war unbegehbar, weil viel zu steil. Die kleine Mauer hatte aber jahrelang dem Ansturm des Meeres getrotzt und die Böschung gesichert.
Jetzt war sie zu großen Teilen weg. Die Sandsäcke hatten so gut wie nichts genützt – das Meer war über den Winter hinweg bis an die Böschung herangekommen, hatte angefangen, sie zu unterspülen.
Und nun hatte man also die Idee gehabt, über den sturmlosen Sommer hinweg den Steilhang mit Rupfenflächen und Bambusgeflecht zu schützen, damit die Pflanzen Zeit hatten, sich anzusiedeln und die Abdrift zu verhindern. Die EU zeigte sich wie immer sehr kompetent und gab Finanzspritzen.
Die Touristin, die nicht mit dem Meer aufgewachsen war, stand Mitte September vor diesem Steilhang und ließ einen Schrei los, der schon alleine Lawinen auslösen konnte. Als Laie sah sie sofort, das konnte nicht gut gehen. Es sah schön ordentlich aus, optisch ansprechend, sauber, fein gemacht. Man hatte das Gefühl, hier wurde der Natur mit sanften Methoden geholfen. Nur ist die Natur nicht sanft. 

Der erste Herbststurm

Mitte Oktober 2009 kam der erste heftige Herbststurm während der Springflut. Vier Tage lang konnte kein Mensch an den Strand, es wehte zu heftig.
Am fünften Tag dann wagte sich die Touristin zum ersten Mal wieder zum Meer. Am Rand der Böschung neben einer Gartenmauer stand ein Anzugträger, eindeutig ein Mann aus der Stadtverwaltung, womöglich sogar der Bürgermeister selbst. Schon seinem Rücken konnte die Frau seine Fassungslosigkeit ansehen. Er stand bewegungslos und starrte hinunter auf den Strand und über die Böschung vor ihm.
Sie stellte sich neben ihn, um die Bescherung auch betrachten zu können. Und stellte fest, die Böschung sah genauso aus wie sie es erwartet hatte. Sie meinte mit ihrem unvergleichlichen Französisch zu dem Mann: Kaputt. Denn an der Böschung gab es keine Stelle mehr, wo Rupfen oder Bambus noch wie vor dem Sturm lagen. Bambusstangen lagen kreuz und quer über den Strand verteilt, der Rupfen war zerrissen und größten Teils vom Sand bedeckt. Da es noch immer wehte, lag ein feiner tanzender Schleier über der Fläche. Die darunter herausragenden Zipfel des Rupfens wackelten freudig im Wind. Die Bambusbalustrade, die entlang der Böschung am Ende des Strandes gebaut worden war, ähnelte einem Mikadospiel.
Der Herr wandte sich zu ihr um und fing an zu sprechen. Sie bedeutete, dass sie kein Wort verstehe, er begriff und sprach Englisch. Er war fassungslos. Seine Stimme kippte fast vor Wut. Er erklärte ihr, dass alles Idioten seien – Naturschützer, die EU, die ganze Bürokratie – einfach alle da in Paris oder Brüssel. Sie hatte das schon selbst erraten, nur die Sache mit den EU-Geldern war ihr zu diesem Zeitpunkt neu.
Und sie war gespannt, wie es weitergehen würde, denn das  war nur der erste Sturm des Herbstes gewesen. Schlimmere würden in den nächsten Monaten kommen.
Wieder wurden Sandsäcke aufgefüllt und vor der Böschung platziert, dieses Mal musste es schnell gehen, denn der nächste Sturm würde nicht lange auf sich warten lassen. Bis zur Ruhe des Sommers waren es noch einige Monate.
Was würde nun bis zum nächsten Herbst geschehen? Für sie war klar: Auf Dauer konnten nur Wellenbrecher die Häuser auf dem Felsen schützen – Wellenbrecher aus Beton oder mindestens großen Steinen.
Fortsetzung im 2. Teil der "Geschichte eines Strandes".

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