Mittwoch, 9. Oktober 2013

Islandfischer



Pêcheur d’Islande

Über ein EBook, das ich heruntergeladen habe, weil der Begriff „bretonisch“ im Titel stand, werde ich zum wiederholten Male auf Pierre Loti und sein Buch „Islandfischer“ aufmerksam gemacht. Das Buch zu lesen ist die Energie nicht wert ist, die es braucht, es auf den Reader zu bekommen, doch die Islandfischer fangen an, mich zu interessieren. Das ganze Gebiet um Paimpol ist voller Hinweise auf diesen Schriftsteller. Also lade ich die Islandfischer auch noch gleich auf mein Gerät, als altes Buch kostenlos – und recherchiere erst einmal.
Der Islandfischer wird auch in Saint Malo und vermutlich noch anderen Fischerhäfen an der Nordküste gedacht, doch Pierre Loti ließ seinen Roman hier spielen.

Ich lerne, dass Yann, der Fischer, aus Ploubazlanec stammt, dem Örtchen auf der Nordseite der Bucht vor Paimpol, und dort einige Plätze an das Buch und Pierre Loti erinnern. Eins muss man den Franzosen im Allgemeinen und den Bretonen im Besonderen lassen: Ihre Kultur wissen sie touristenwirksam einzusetzen. Überall. Daran können sich die Deutschen ein Beispiel nehmen.
Aber wer würde in Deutschland auch einen Schriftsteller wie Pierre Loti kennen? Ach so ja, Theodor Storm kennt man – zumindest wenn man aus Husum ist. Dort ist „Der Schimmelreiter“ Schullektüre. Ich aus Süddeutschland habe es bis heute noch nicht gelesen. Dafür aber Hauffs Märchen, wenn schon nicht „Lichtenstein“ – es reicht, wenn ich das Schloss kenne. 
Vermutlich geht es den bretonischen Schülern ähnlich. Sie wachsen mit den Islandfischern auf. Und mit François-René de Chateaubriand, der aus Saint Malo stammte und dort auf der Insel Grand Bé auch beerdigt ist. Doch dessen Werke sind über Frankreich hinaus bekannter, da er ein Vertreter einer ganzen Epoche war. Ganz zu schweigen von dem mit Käse gefüllten Schnitzel, das wohl sein Lieblingsgericht gewesen war.  

Pierre Loti 

In Deutschland kennt man Pierre Loti weniger, denn er schrieb keine Metropolenliteratur aus Paris, sondern von exotischen Gestaden, Japan, der Südsee, Istanbul und Jerusalem. Die „Islandfischer“ fielen aus seinen anderen Arbeiten ein wenig heraus.
Pierre Loti war kein Bretone. Er hieß eigentlich Louis Marie Julien Viaud und stammte aus Rochefort, südlich von La Rochelle an der Charente-Mündung. Er war ein französischer Marineoffizier und Schriftsteller und hielt sich auf Grund seiner Reisen für einen Globetrotter und Abenteurer. 


Croix des Veuves

Croix des veuves - sind da Segel am Horizont?

Doch für die Bretonen und insbesondere für die Paimpolaises ist Lotis Buch so etwas wie das Buch ihrer Kultur, der Kultur der Fischer und ihrer Familien, ihres harten Lebens, das oft vor Island endete, während die Frauen am Croix des Veuves, dem Witwenkreuz, Ausschau nach den Schiffen hielten, die aber nie zurück kommen würden. 
Die Geschichte von Yann und  Gaud ist eine Liebesgeschichte. Und wenn man am Witwenkreuz steht und den Kanal hinauf schaut, von wo die Schiffe aus Island kommen würden… Woher eigentlich? Von Westen oder von Osten? Kommen sie die Irische See herunter? Oder fahren sie im Westen von Irland, an der Westküste der Insel herunter? Jedenfalls nicht aus Richtung Nordsee – ich schaue in die falsche Richtung. Doch sie kommen auf jeden Fall an der Île Bréhat vorbei, die dort drüben in der Sonne liegt.
Ich schaue über das Meer und stelle mir vor, wie am Horizont, neben der Île Bréhat, die ersten Segel auftauchen. Und wie aufgeregt die Frauen und Kinder sind, wie sie hinunterrennen, um die Männer zu begrüßen, wenn die Schiffe anlegen. Wie sie die Schiffe abzählen – sind es alle? Fehlt einer? Und welches Schiff fehlt? Ist es das mit meinem Mann? Oder das, auf dem der Vater fährt?
Wie sie glücklich sind, den Mann, den sie lieben, zu erkennen, wie er darauf wartet, von Bord gehen zu können. Und wie sie sich endlich in die Arme fallen.
Und ich sehe die Frauen, die vergeblich warten. Das Schiff mit dem Vater ihrer Kinder, dem Ernährer der Familie, ist nicht dabei. Es ist in der rauen See vor Island verloren gegangen. Ich sehe ihre gerade, dunkle Silhouette vor dem grauen Meer stehen, versteinert, noch immer in die Ferne schauend, mit einem Rest Hoffnung, dass es doch noch kommt, das Schiff mit dem, der ihr das Leben sichert. Er wird niemals mehr kommen. Es gibt kein Grab, kein Gedenkstein, nichts, was an ihn erinnert, nur die kleinen Menschen, die sich vertrauensvoll an ihren Rock klammern und die nun ihren Vater nie wiedersehen. Und sie weiß nicht, wie sie die Kinder über den Winter ernähren soll.
Für all diese in der Ferne verschollenen gibt es am Friedhof von Ploubazlanec eine „Mur des Disparus“, eine Mauer der Verschollenen. Die alten Erinnerungsschilder aus Holz sind inzwischen verwittert und wurden durch emotionslose, gleichförmige Tafeln ersetzt. Einige der alten Holztafeln, die noch nicht ganz verwittert sind, wurden zu ihrem Schutz in die Kapelle von Perros-Hamon gebracht.
Unterhalb des Kreuzes, an der Steilküste, steht zuerst wieder ein schlafendes Haus, ein Ferienhaus. Die Zufahrt führt über einen Wiesenweg. Warum darf das Haus hier stehen? Und warum wohnt niemand darin? Wie eine alte Burg hängt es im Felsen.
Der Weg führt am Grundstück entlang über viele Stufen hinunter. Ich fluche, weil ich weiß, ich muss sie auch wieder hinauf. Gut für die Kondition. Nach dem Mittagessen in Paimpol durchaus angebracht.
Paimpol

Paimpol

Ich bin mit dem Navi nach Paimpol gefahren. Es ist zwar nicht unbedingt notwendig, denn man findet den Hafen problemlos, doch es ist immer interessant, was das Navi meint besser zu wissen. Ich hatte „Rue de la Port“ eingegeben. Als ich ankomme, denkt das Navi nicht, dass ich am Ziel sei. Denn die Straße am Hafen ist keineswegs die Rue de la Port. Das ist ein kleines Sträßchen, das vom Hafen weg in die alte Stadt führt, gleich neben dem Restaurant „L‘Islandaises“, wie ich feststelle, als ich mich entscheide, dort zu essen. Geparkt habe ich stattdessen auf dem „Quai Pierre Loti“. Ok – schon geht es los. Dieser Mann ist allgegenwärtig.
Das Restaurant „L’Islandaise“, das zusammen mit seinen Nachbarn eines der Postkartenmotive der Stadt darstellt, ehrt die Islandfischer. Überall hängen Fotos und stehen Erinnerungsstücke herum.

Die Islandfischer


Mehr als 2600 Schiffe, jährlich über 80, fuhren zwischen 1852 und 1936 von hier aus nach Island, um den Kabeljau – oder Dorsch – zu fangen. Der Roman spielt in 1886. Der Höhepunkt war 1896, als die Stadt 82 Goëlettes (typische Segelschiffe für den Kabeljaufang) unterhielt. Alljährlich am zweiten Sonntag im Februar fand die große Prozession der Islandfahrer statt, danach stachen sie in See.
Im September sie zurück – sofern sie zurückkamen.
Die Bucht heute - mit der Île Bréhat
Die Strapazen an Bord in den eisigen Gewässern nahe dem Polarkreis waren gewaltig. Mangelernährung, Krankheiten, unzureichend behandelte Verletzungen und schlechte hygienische Verhältnisse bestimmten das Leben.
Schlechtes Wetter sowie der Leichtsinn einiger Kapitäne brachten die Schiffe in Gefahr. Ein Schiff, das in Seenot geriet, war verloren, Hilfe war nicht möglich. Überlebende gab es kaum. So gab es im Lauf der Jahre über 2000 Opfer unter den Seeleuten. Mehr als 100 Schiffe kehrten nicht mehr zurück.
Die Fischer nutzten damals keine Netze, sondern Leinen. Sie mussten täglich bis zu 15 Stunden die Fische, die ein Gewicht von 15 bis 30 kg hatten, an Bord hieven. Manchmal, wenn es genug Fische gab, auch rund um die Uhr. Als Köder dienten zuerst Speck, dann Fischteile.
Die Zeit auf See war in zwei Fangkampagnen eingeteilt. Die erste von Februar bis Mai. Nach wenigen Tagen Ruhe ging es weiter. Nur in diesen Ruhetagen hatten die Männer Zeit, sich zu erholen, ihre Wäsche zu waschen, auch ihre Post, die mit Booten von zu Hause kam, zu lesen. Diese Boote nahmen die gefangenen Fische zurück nach Paimpol.
Porz Even
Zu Hause warteten die Familien in immerwährender Ungewissheit. Und beim Croix des Veuves schauten die Frauen hinaus aufs Meer, um die zurückkehrenden Schiffe zu erwarten. In jeder Familie gab es immer jemanden, der zu betrauern war, der Mann, der Vater, ein Onkel, ein Neffe, ein Freund. Viele verloren ihren Ernährer, weshalb die Heranwachsenden gezwungen waren, auf den Schiffen anzuheuern, als "graviers", kleine Steinchen. Sie mussten unter anderem die Fische ausnehmen und konservieren.
Zu Hause wurde auch die Mode von diesem Leben beeinflusst. Die Frauen der Küste trugen immer Schwarz. Daraus entstand die vermutlich weltweit einmalige Tradition schwarzer Hochzeitskleider.
Die Fischerei vor Island endete, weil die Reeder sich nicht zusammenschließen und auf Dampfboote umstellen wollten. 

Porz Even


Die Becken für das Meeresgetier
Porz Even, wo Yann wohl herstammt, ist den Fischerhafen, der zu Ploubazlanec gehört. Vor dem Kai sehe ich Muschelzuchten. Es ist ablaufendes Wasser, und ich sehe die flachen Boote, mit denen die Austern betreut werden. Ein Traktor kommt mir entgegen, auf seinem Anhänger türmen sich Säcke. Coquilles Saint Jacques, auf dem Weg in den Handel – oder zum Großmarkt in Paris.
Heute laufen hier keine Schiffe mehr zum Kabeljaufang aus. Heute sind es die Meeresfrüchte, die hier geerntet werden. Austern, Muscheln werden auf dem Meeresboden gezüchtet. Ich sehe die alten Bassins und die Gestelle, auf denen die Austern gelagert werden. 

La Trinitè

An der Klippe unterhalb des Witwenkreuzes steht eine Kapelle. Wo so viele Tragödien stattfanden, brauchten die Menschen dort, wo sie die Rückkehr der Boote beobachten konnten, eine Platz der Ruhe und der Einkehr. 1868 wurde dieses Kirchlein erbaut, nicht gerade eine architektonische Meisterleistung. Sie trägt  denselben Namen wie die Landspitze, auf der sie steht: Chapelle de la Trinité – die Dreifaltigkeitskapelle. Sie ist die letzte einer Reihe von Kirchlein an dieser Stelle, die hier schon seit dem 12. Jahrhundert stehen. Damals fanden regelmäßig Überfahrten auf die Île Saint Riom, die gegenüber von Porz Even liegt, zu der dortigen klösterlichen Gemeinschaft statt. Als ein solches Boot bei der Überfahrt in einen Sturm kam und die Mönche sich in ihrer Angst vor dem nahenden Ende an die heilige Dreifaltigkeit wandten, wurden sie an dieser Felsenspitze an Land gespült. So wurde die erste Kapelle vom Beschützer der Mönche, Alain comte de Goëlo et de Penthièvre, hier gebaut. Der Name Beg ar C'hastell (Schloßspitze in altem Bretonisch) wird allerdings erst im frühen 18. Jahrhundert geändert.
Doch noch früher gab es den aus Cornwall geflohenen Saint Pébrel, einen der vielen Eremiten, die die Bretagne prägten, der die erste Kapelle hier baute, ebenfalls der Trinité geweiht. Offensichtlich ist dieser Platz ein Anziehungspunkt für Gewitter, den einige der Kirchen sind vom Blitz zerstört worden, was natürlich immer als Zeichen aus dem Jenseits gewertet wurde. Und gleich neben dem Eingangsportal lese ich auf einem modernen Schild, dass ich mich im Fall eines Gewitters nicht näher als drei Meter der Kirche nähern solle. Mache ich nicht – es tobt kein Gewitter.

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