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Weiße Küsten |
Die Küste der Bretagne ist verbaut. Es gibt kaum einen
Küstenabschnitt, an dem auf längere Strecke kein Haus steht. Fährt man mit dem
Boot hinaus und schaut zurück, so gibt es Küstenabschnitte, die weiß von den
Gebäuden sind, grünes ist fast nicht mehr vorhanden. Nur hohe Klippen haben der
Bauwut Einhalt geboten – doch oben, direkt am Rand der Felsen, mit dem schönsten
Blick über das Meer, findet man dann doch das ein oder andere Haus, die Villa,
das Schlösschen.
Ferienziel der Reichen
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Die Fenster sind offen - Herbstferien |
Schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts haben nicht mehr nur Fischer und Bauern
ihre kleinen Häusche
n bewohnt, auch reiche Leute aus Paris und anderen Städten bauten
sich ihre Domizile ans Meer. Spektakuläre Beispiele sind das Chateau Costaere
vor Trégastel, in dem heute Dieter Hallervorden residiert, oder das im
Abschnitt über die Inseln genannte Haus auf der Île Illiec, das dem Flieger
Lindbergh gehört hatte, das aber vor der Jahrhundertwende von einem reichen
Menschen gebaut worden war.
Auf der Halbinsel Crozon, ganz am Ende, steht die Ruine des Manoir
de Coecilian, das dem französischer Symbolist und Dichter Saint-Pol-Roux gehört
hatte. Es war 1944 von den Deutschen bombardiert worden, seither ragen nur noch
seine vier Ecktürme in den Himmel.
Solche Häuser gibt es einige. Auch hier an de Côte Granite
Rose stehen einige alte Häuser, die eindeutig kurz vor oder nach 1900
entstanden sind. Doch damals standen sie einsam auf ihren Felsen. Heute sind
sie umringt von Neubauten, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind.
Fischer- und Bauernhäuser
Natürlich hat es immer Städte und Dörfer gegeben, die bis an
die natürlichen Häfen der Küste heranreichten, die dann zu befestigten Häfen
ausgebaut wurden. Auch haben Fischer immer an günstigen Stellen der Küste
gebaut. Oft gibt es Ruinen von Gebäuden an Stellen, wo man sie gar nicht
erwartet. Zum Beispiel hat bis 1968 auf der Île Lapin unter dem Felsen, der wie
in Hasenohr geformt ist, in einer troglodytischen Behausung der Fischer Zantig
gelebt. Die Mauer, die er zu seinem Schutz gebaut hat, ist noch zu sehen.
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Traumlage - meist geschlossen |
Auch einzelne kleine Bauern- und Fischerhäuser gibt es immer
wieder. Doch letztendlich sind diese alten Gebäude so verstreut und in großen
Abständen, dass die Natur dazwischen ein Chance hatte. Auch haben sich Fischer
und Bauern bemüht, ihre Häuser so zu bauen, dass sie weder bei einem Sturm noch
durch hohe Fluten beschädigt würden und das Leben in den Häusern selbst bei den wildesten Wettern einigermaßen
erträglich sein konnte.
Einige alte Höfe auf den Inseln sind auch mit der neuen Zeit
wegen Unrentabilität aufgegeben worden, denn heute würde niemand mehr einen
Kilometer vom Festland entfernt leben wollen, auf einem Felsen, an dem anzulegen
selbst mit modernen Schiffen gefährlich ist, wenn ein heftiger Sturm tobt.
In der alten Zeit dachte man über Wind und Wetter nach und
baute entsprechend.
Die verbaute Küste
Doch in der neuen Zeit, mit dem Tourismus, änderte sich das.
Heute werden Ferienhäuser gebraucht. Und es wurde gebaut und gebaut.
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Auf einem Landvorsprung steht dieses neue Haus |
Als wir in 1987 zum ersten Mal die Bretagne bereisten und
einmal um den ganzen Drachenkopf herumfuhren, waren wir schon damals entsetzt,
wie wenig freie Küste es gab. Doch draußen am Ende der Welt, an der
westlichsten Küste der Bretagne, am Oberkiefer des Drachens nördlich von Brest,
waren die Dünen unbebaut und ungeschützt dem Sturm vom Atlantik ausgesetzt. Es
gab unterhalb der schroffen Klippen, die für diese Küste typisch sind, in den
Senken, die kleine Bäche, die ins Meer fließen, geformt hatten, diese einsamen,
geheimnisvollen sandigen Buchten, teilweise nur schwer zugänglich, mit ihren
faszinierenden Felsformationen, ihren Bögen, Stelen und Höhlen.
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Ein alter Ort, der sich ausgeweitet hat |
Jahre später waren in den Senken
bis zum Zugang des Strandes zugebaut. Die Häuser reichten bis keine 50 m an der
Küste, auf den Felsen standen edle Villen in Parks. Freies Gelände gab es
wirklich nur noch dort, wo man wirklich keinerlei Chance hatte, mit den
Baulastern hinzugelangen.
Wenn man mit dem Schiff von der Insel Ouessant ganz im
Westen auf das Festland zurück fährt, sieht man an der ganzen Küste entlang
einen weißen Streifen – Häuser. Freies Gelände gibt es kaum noch – zwischen Porspoder
und dem Leuchtturm von Pointe Saint Mathieu. Diese Küste geht genau nach
Westen. Nur der westlichste Punkt Frankreichs, Pointe Corsen, ist unbebaut. Der
Semaphore, von dem aus der Schiffsverkehr um die gefährlichen Felsen herum und
zum Eingang des Ärmelkanals überwacht wird, wurde etwa 300 m von den steilen
Felsen landeinwärts gebaut.
Stürmische Küste
Das heißt, hier am Ende des Kontinents prallt das Wetter ungebremst
auf das Land. Die Frühjahrs- und Herbststürme donnern mit der ungebremsten
Kraft, mit der sie über den Atlantik fegten, gegen die Küste. Aus diesem Grund
ist der Westzipfel der Bretagne von Natur aus karg, es wachsen fast keine Bäume
auf den offenen Flächen. Die alten Granithäuser ducken sich in die Senken und
haben keine Öffnungen in die Richtung, aus der der Sturm kommt.
Nun stehen dort neue Häuser. Schutzlos sind sie dem
Wetter aus dem Westen ausgesetzt.
Doch im Frühjahr und im Herbst sind diese Häuser
verschlossen. Sie schlafen. Denn sowohl die alten als auch erst Recht die neuen
Häuser sind Ferienhäuser. Sie wurden gebaut, damit Pariser Familien oder andere
Feriengäste die Sommerferien dort verbringen können. Für den Rest des Jahres
sind die meisten verschlossen. Wenige werden in den Herbstferien, an
Weihnachten und vermutlich Ostern geöffnet.
Bretonische Erben
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Umgebautes Bauernhaus - geschlossen |
Die alten Fischer- und Bauerhäuser, die schon lange hier stehen,
werden von Bretonen, die in Paris oder anderswo ihr Arbeitsleben verbrachten,
geerbt. Es geht die Mär, in Paris leben mehr Bretonen als in der Bretagne
selbst. Das sagt man aber auch von den Iren: Es gibt mehr in England als in
Irland – von den USA ganz zu schweigen. Die Bretonen waren in ihrer Jugend in
die Stadt gewandert, da es in der Bretagne keine Arbeit gab. Die Eltern blieben
in den kleinen Häuschen zurück. Die Kinder machen Karriere – und erben
irgendwann das Haus an der Küste.
Teilweise werden diese Häuser dann verkauft. Vor der Krise
kauften hauptsächlich Engländer, Deutsche und auch Holländer – wie überall in
den schönen Gegenden Frankreichs. Die Immobilienpreise waren so hoch, dass
Einheimische keine Chance hatten. Irgendwann in den Jahren nach der
Jahrtausendwende aber gab es zwei Änderungen. Die erste betraf den
Immobilienmarkt überhaupt. Ein neues Gesetz besagte: die Häuser mussten zuerst
Bretonen angeboten werden, bevor Ausländer oder auch Pariser kaufen konnten –
und das wohl auch zu einem bezahlbaren Preis. Wie weit das funktionierte, weiß
ich nicht, denn dann kam die Krise. Mindestens die Engländer kehrten nach Hause
zurück. Nicht alle, aber viele. Wenn ich allerdings bei den Immobilienmaklern
ins Schaufenster schaue, hat da an den Preisen nichts geändert, die sind
weiterhin astronomisch.
Was aber eigentlich wichtiger ist: Noch vor der Krise griff
der Küstenschutz auch in Bezug auf Neubauten.
Küstenschutz auch hier
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Geschlossen - auf einem Felsvorsprung am Meer |
Wie ich an anderer Stelle schon einmal erwähnte, bemüht man
sich schon seit vielen Jahren, die Küste zu retten. Im Zusammenhang mit der
wilden Bebauung bedeutete das: Ab etwa Mitte 2000 durfte nicht mehr näher als
800 m an die Küste herangebaut werden, innerhalb von Siedlungen, wo die Küste
bereits bebaut ist, nicht näher als 300 m. Man hatte sozusagen fünf Minuten
nach 12 Uhr die Reißleine gezogen.
Eines der besten Beispiele für diesen unmäßigen und
unvernünftigen Hausbau an der Küste sind die sieben Häuser oberhalb der Grève
blanche. Laut meiner Vermieterin sind diese Häuser Anfang der 1970er gebaut
worden. Ich vermute, die ganze Siedlung Grève Blanche ist bis auf ein oder zwei
Häuer nicht älter.
An der Ecke befindet sich die Segelschule. Das Haus scheint
alt zu sein, es ist gegen das Meer durch Dünen und eine Mauer geschützt. Dort
ist immer etwas los, das Haus ist immer offen. Jenseits der kleinen Straße, die
als Zugang zum Strand dient, stehen sechs kleinere Häuser, die alle im Herbst
geschlossen sind. Vielleicht sind während der Herbstferien ein oder zwei für
eine Woche vermietet, vielleicht sogar von den Eigentümern bewohnt, aber nicht
jedes Jahr. Das siebte, südlichste Haus, ist das imposanteste. In den ersten
Jahren, die ich hier den Herbst verbrachte, war es noch ganzjährig von den
Eigentümern bewohnt. Dann zogen diese aus, und es wurde als Ferienhaus
vermietet. Es ist allerdings auch im Herbst meist bewohnt, von wechselnden
Gästen. Es ist ein Traumhaus mit einem wunderschönen Blick über die Bucht mit
den Inseln Tanguy, Île de Seigle und der Kanincheninsel, hinüber zur Île Grande
und der ganzen Bucht von Lannion. Schöner, denkt man, kann man nicht leben.
Warum aber sind die Eigentümer ausgezogen, wenn sie in so
einem Traumhaus leben konnten?
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Grève Blanche |
Weil diese sieben Häuser oben auf ihrer Anhöhe ungeschützt
Richtung Westen auf das Meer hinausschauen. Wenn der Sturm vom Atlantik
herkommt, donnert er auch dort ungebremst auf die Hauswände. Meine Vermieterin
erzählte mir, dass die Menschen dort bei Sturm nicht schlafen können, sie fühlen
sich wie bei einem Erdbeben. Ich frage, warum man die Häuser da gebaut hat. Sie
grinst und zuckt mit den Schultern. Wir wissen es ja auch alle…
Während ich hier schreibe, ist der für heute angesagte
Sturm, der mit 130 km auf das Festland donnern soll, angekommen. Das Haus, in
dem ich mich befinde – etwa 100 m vom Strand entfernt und geschützt durch einen
Felsen - dröhnt und wackelt, wenn die Böen auf die Mauer prallen. Es braucht
nicht viel Phantasie, sich vorzustelle, wie das Leben in diesen sieben Häusern
vorne am der Grève blanche sind. Aber – sie sind ja leer und verriegelt.
Der kleine Strand, Grève blanche, der vor diesen Häusern
liegt, erzählt eine eigene Geschichte, die ich schon seit 2008 jedes Jahr
weiterschreibe und hier ebenfalls veröffentlichen werde. „Die Geschichte des
kleinen Strandes“. Auch da spielen diese sieben Häuser eine Hauptrolle.